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von viktoria zu fux – denkXmal

Eine Treppenhaus-Ausstellung des Vereins ehemalige Viktoria Kaserne e.V. in Zusammenarbeit mit der fux eG

Konzept:
Mehmet Alatur
Christoph Lohse

Redaktion:
Theo Bruns

Texte:
Theo Bruns
Frank John
Frank Omland

Bildtafeln:
Solidargemeinschaft vs. Zwangsgemeinschaft:
Alexander Hanke
Philipp Mechsner
Drillen vs. Bilden:
Lena Hällmayer
Anne Rücker
Birgit Weyhe
Aufbruch vs. Repression:
Uta Röttgers
Verfolgung & Vernichtung:
Mehmet Alatur
Christoph Lohse
Hilfe vs. Helfen:
Allan J. Dorr
Sibylle Dorr

Schriftbänder:
Dorle Koch
Alexander Mayer

Schriftsiebdruck:
Gabriela Kilian

Organisation:
Sacha Essayie
Friederike Suck

Dank für Unterstützung und Beratung:
Robert Brack, Herbert Diercks, Andreas Ehresmann, Isabell Priebe, Stefan Klemp, Wolfgang Kopitzsch, Peter Offenborn, Jörg Petersen, Carsten Stöppler, Karin Schanzenbach, Max Stempel, Kristina Vagt

Intro

In der Nutzungsgeschichte der Gebäude der ehemaligen Viktoria-Kaserne spiegeln sich in beklemmender Weise eineinhalb Jahrhunderte deutscher Geschichte. Die wuchtigen Backsteinmauern stehen als stumme Zeugen für den Untertanengeist des preußischen Militarismus, für Kolonialkriege und Überfälle auf europäische Nachbarstaaten in zwei Weltkriegen, für den Untergang der Weimarer Republik und für die Verbrechen des Nationalsozialismus sowie die Beteiligung deutscher Polizisten am Holocaust. Der demokratische Neubeginn der Nachkriegszeit war von den Nachwirkungen dieser Vergangenheit geprägt.

Die fux Genossenschaft begreift diese Geschichte als eine Verpflichtung zur Erinnerung, zur Mahnung, zum Nachdenken. Mit der Umnutzung der Gebäude möchte sie mit der autoritären Tradition brechen und einen neuen, freien Geist einziehen lassen. Sie möchte eine humanistische Konversion dieses Ortes erreichen und solidarische und selbstverwaltete Strukturen als Keimformen einer gerechten Gesellschaftsordnung entwickeln.

Chronologie

1878–1883 Bau der Kaserne, Standort des seit 1871 in Altona stationierten 31. Infanterie-Regiments, das ab 1894 nach seinem ehemaligen Kommandanten Graf Bose benannt wurde. Es nahm seit 1812 an mehreren Kriegen teil und verkörperte die antidemokratische, koloniale und militaristische Tradition Preußens und des Deutschen Reiches.
1900/1901 Teilnahme an dem Kolonialkrieg gegen den sog. Boxeraufstand in China. Hunnenrede Kaiser Wilhelms II.
1914–1918 Erster Weltkrieg: Das 31. Infanterie-Regiment ist 1914 im Rahmen des IX. Armeekorps am völkerrechtswidrigen Überfall auf das neutrale Belgien beteiligt, in dessen Verlauf Massaker an der Zivilbevölkerung verübt werden.
1918 Novemberrevolution. Für kurze Zeit besteht in der Kaserne ein Soldatenrat. Das Regiment wird aufgelöst.
1918–1922 Standort von kommunaler Altonaer Polizei und Einheiten der Hamburger Ordnungspolizei.
1923–1937 Polizeipräsidium Altona-Wandsbek mit Kripo, Politischer Polizei, Hafenpolizei (Block I), Überfallkommando (Block II). Kasernierte Polizeibereitschaften für die südliche Westküste Schleswig-Holsteins (Block III).
1931/1932 Pflegeamt Altona im Block III.
17. Juli 1932 Altonaer Blutsonntag.
Juli 1933 bis Februar 1935 Sitz der Gestapo Schleswig-Holsteins in Block I.
1934 Einzug Technische Prüf- und Lehranstalt der Reichszollverwaltung in Block III.
30.1.1934 Überführung der kasernierten Bereitschaftspolizei in die Landespolizei.
15.10.1935 Überführung der Landespolizei in die Wehrmacht.
Ab 1.4.1937 Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz Polizeiamt Altona der Hamburger Polizei.
28. Oktober 1938 Im Rahmen der sogenannten Polenaktion werden ca. 1000 Jüdinnen und Juden polnischer Herkunft aus Hamburg an die polnische Grenze deportiert. Die meisten von ihnen werden später Opfer des Holocaust. Sammelpunkt für die Deportationen war die Reit- und Exerzierhalle der Kaserne.
1939–1945 Stationierungsort von Polizeibataillonen, die am Überfall auf Polen, Erschießungen und Zwangsumsiedlungen beteiligt sind. Ab 1941/42 sind Hamburger Reservepolizeibataillone als zentrale Akteure des Holocaust an Deportationen sowie im Rahmen der »Aktion Reinhardt« an Massenermordungen von Jüdinnen und Juden beteiligt. Das Polizei-Schützen-Regiment 31 begeht bei dem vorgeblichen Kampf gegen Partisanen schwere Kriegsverbrechen in Weißrussland.
1945 Kurzzeitige Unterkunft von Flüchtlingen und Obdachlosen.
Mai 1945–1958 Nutzung von Block I und II durch die britische Besatzungsbehörde als Ausbildungsstätte für die Hamburger Polizei. Im Block I Polizeirevierwache (bis zum Abriss). Block III Polizeistandort mit Fahrzeugschuppen und Werkstätten.
1952 Erweiterungsbau für die Zolltechnische Lehr- und Prüfanstalt.
1958–1975 Nutzung von Block I und II als Wohnlager für Aussiedler und Flüchtlinge aus der sogenannten »sowjetisch besetzen Zone«, SBZ (spätere DDR), ab 1962 für Wohnungslose. Block III: Fahrbereitschaft der Polizei und Verkehrsstaffel West sowie Zentrale Ausgabe der Dienstkleidung für Hamburg (bis 1986).
1977 Abriss von Block I und II.
1984 Teilnutzung des verbliebenen Blocks III durch die Universität Hamburg, Meeresbiologie und Informatik.
1986 Auszug der Polizei aus Block III, im Anschluss unterschiedliche Nutzungen.
1.3.2010 Einzug des Frappant e.V. in einen Teilbereich des Gebäudes.
2010 Abriss des Erweiterungsbaus der Zolltechnischen Lehr- und Prüfanstalt.
2011 Block III wird unter Denkmalschutz gestellt.
Oktober 2013 Gründung der fux Genossenschaft.
Februar 2015 Ankauf des Geländes und des Gebäudes, Beginn von umfangreichen Sanierungs- und Umbaumaßnahmen. Selbstverwaltung durch die fux eG.

Zwangsgemeinschaft vs. Solidargemeinschaft (Kaiserzeit/heute)

Infotext In Folge der preußischen Kriege von 1864 bis 1871 und der Gründung des deutschen Kaiserreichs wurde ab 1878 im Norden Altonas mit dem Bau einer neuen Kasernenanlage begonnen. Für die wachsende Stadt Altona war die »Neue Caserne« ein Prestige- und Wirtschaftsfaktor. Hier waren 1.500 Soldaten des preußischen Heeres untergebracht, das sich aus Wehrpflichtigen und Berufsoffizieren zusammensetzte. Der Alltag der Soldaten war geprägt durch stumpfsinniges Exerzieren, Erwartung unbedingten Gehorsams und Misshandlungen durch Offiziere. Der Militarismus fand in Kolonialkriegen seinen Ausdruck und kulminierte schließlich im Ersten Weltkrieg.

In bewusstem Gegensatz zur soldatischen Zwangsgemeinschaft des Kaiserreichs steht die heutige Solidargemeinschaft der Genossenschaft. 137 Jahre nach Baubeginn kaufte sie nach einer Zwischennutzung durch den Frappant e.V. und mit Unterstützung des Recht-auf-Stadt-Netzwerks das wilhelminische Backstein-Ungetüm von der Stadt Hamburg. Damit ist eine Umwidmung verbunden, die das Bauwerk in Form und Funktion zivilisieren soll. Die neue selbstverwaltete Produktionsstätte soll ein Gegengewicht gegen steigende Gewerbemieten bilden. Mit unseren Arbeiten, Ausstellungen und Aktivitäten wollen wir Ideen für eine solidarische Stadt entwickeln und verwirklichen.

»Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Überlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf 1000 Jahre durch Euch in einer Weise bestätigt werden, daß es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen!«
Kaiser Wilhelm II., 1900

»Seid gewarnt Ihr, die durch Schlachtenruhm Die Völker in Ketten wollt schmieden; Wir wollen kein neues Hunnenthum, Nein, Menschenwohl, Freiheit und Frieden!«
»Volksstimme« der SPD, 1. Mai 1901

Drillen vs. Bilden

Zu allen Zeiten wurden in diesem Gebäude Menschen trainiert bzw. ausgebildet – allerdings mit sehr unterschiedlichen Zielen und Wertorientierungen: Der militärische Drill der Kaiserzeit stand für preußische »Tugenden« und ein heroisierendes Männerbild. In der Weimarer Republik sollte die Polizei »Sicherheit und Ordnung« aufrechterhalten, die Kasernierung und Militarisierung der Bereitschaftspolizei blieb dabei bestehen. Im Nationalsozialismus erfolgte die teilweise Überführung in die Wehrmacht und die Verschmelzung der Polizei mit der SS. Hamburger Polizisten beteiligten sich aktiv am Völkermord im Zweiten Weltkrieg. Dem wurde durch die ideologische Schulung, die auf Antisemitismus und völkischem Rassismus beruhte, sowie durch Konformismus und Karrierestreben der Boden bereitet. Nach 1945 scheiterten die Versuche der Briten zur Demokratisierung und Entnazifizierung in der hiesigen Polizeischule weitgehend. Eine aktive Aufarbeitung der Polizeigeschichte begann erst ab den späten 1980er-Jahren. Mit dem Einzug der Universität prägte die Meeresbiologie die Nutzung des Gebäudes.

Heute sind hier Gewerbetreibende und Firmen tätig, die einen lebendigen Ort für Kunst, Kultur, Bildung und Handwerk schaffen. Die Genossenschaft strebt mit der Umnutzung des Gebäudes zugleich eine bauliche und gesellschaftliche Öffnung in den Stadtteil an. Sie möchte durch aktive Erinnerungsarbeit zu einem kritischen Umgang mit der Geschichte dieses Ortes beitragen.

Gehorchen Sie jedem Befehl Ihrer Vorgesetzten ohne Zögern. Wenn Sie den Befehl als ungesetzlich erachten, denken Sie daran, dass Sie die Ungesetzlichkeit beweisen müssen, andernfalls werden Sie streng bestraft werden. Durch seinen Gehorsam soll der geringste Beamte das Gefühl haben, dass er durch gutes Benehmen und freudige Unterordnung eines Tages selbst in der Lage sein wird, die Befehle zu erteilen, die er heute auszuführen hat.
Bruno Georges, Polizeichef in Hamburg, 1946

Unsere Themen und Leidenschaften sind soziales und pädagogisches Handeln sowie Kommunikation in der europäischen Einwanderungsgesellschaft. Wir heben Sprachschätze und tragen bei zu einer strukturell offenen mehrsprachigen Stadt, in der alle Menschen ihre Rechte wahrnehmen können. Wir sensibilisieren für Diversität, gegen Diskriminierung und gegen Populismus. Insbesondere die Entwicklung partizipativer und aktivierender Lernformate liegt uns am Herzen.
dock europe, Internationales Bildungszentrum, 2020

Aufbruch vs. Repression (Weimarer Republik)

Mit der Novemberrevolution, die den Ersten Weltkrieg und das Kaiserreich beendete, zog auch in die Kaserne für einen kurzen, aber entscheidenden Moment ein freiheitlicher Geist ein. Am 6. November 1918 bildete sich ein Arbeiter- und Soldatenrat für »Hamburg, Altona und Umgebung«, die politischen und militärischen Häftlinge in den Altonaer Gefängnissen wurden befreit.

Mit der Demobilisierung des Heeres in Altona begann 1919 ein neues Kapitel der Gebäudenutzung: Anstelle des Militärs zog die Polizei in die Kaserne ein. Deren Polizeioffiziere waren mehrheitlich deutschnational und antirepublikanisch gesinnt, die Mannschaften eher sozialdemokratisch. So standen sich Gegner und Verteidiger der Weimarer Republik auch in der Polizei gegenüber. Die im Gebäude kasernierte Bereitschaftspolizei sollte die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten und die Polizeireviere unterstützen. Die militärähnliche Ausbildung und Ausrüstung beförderte eine Ideologie der Aufstandsbekämpfung im Inneren. Der Polizeieinsatz beim »Altonaer Blutsonntag« am 17. Juli 1932 zeigte die Folgen dieser Ausrichtung auf. Ein vom sozialdemokratischen Polizeipräsidenten Otto Eggerstedt genehmigter Propagandamarsch der Nationalsozialisten durch die Arbeiterhochburg in der Altonaer Altstadt stieß auf heftigen Widerstand der Anwohnerschaft. Es kam zu Auseinandersetzungen, bei denen zwei SA-Leute getötet wurden. Beim Einsatz der Polizei starben 16 Anwohner*innen, die meisten durch Kugeln der zur Unterstützung herangezogenen Hamburger Polizei.

Der Blutsonntag bot den Vorwand für die Absetzung der letzten sozialdemokratischen Landesregierung und leitete das Ende der Weimarer Republik ein. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden vier im Zusammenhang mit den Geschehnissen festgenommene Antifaschisten zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Die in den Kasernen untergebrachten Mannschaften erklärten sich ausnahmslos solidarisch mit den Revolutionären und schlossen sich den verschiedenen Zügen an. Der Arbeiter‐ und Soldatenrat sorgt für Ruhe und Ordnung. Die in Polizeigewahrsam und Gerichtsgefängnis und in den Militärarrestlokalen inhaftierten Personen wurden in Freiheit gesetzt.
Altonaer Tageblatt, 7.11.1918

Es wurde gerufen »Fenster zu, sonst wird geschossen«. Meine Mutter hat sich deswegen nicht mehr ans Fenster getraut. Als mein Vater nach Hause kam, beugt er sich hinaus, um die Läden zu schließen, die damals nach außen aufgingen. Ein Polizist kniete mit seinem Gewehr auf dem Boden, mein Vater wurde wie ein Vogel abgeschossen.
Günther Miersch über den Altonaer Blutsonntag, 2007

Verfolgung & Vernichtung (Nationalsozialismus)

Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten erfolgte die rasche Gleichschaltung der Polizei. Sozialdemokratische Beamte wurden entlassen, SS- und NSDAP-Mitglieder bevorzugt eingestellt. Die Zentralisierung und die Verschmelzung von Polizei und SS sicherten in der Folge die Macht des NS-Regimes ab. 1937 wurde Altona durch das Groß-Hamburg-Gesetz an Hamburg angeschlossen.

Schon bei den ersten Verhaftungsaktionen 1933 wurden das Polizeigefängnis in Altona und die Hallen an der Herderstraße als Haftstätten benutzt. Die schleswig-holsteinische Gestapo mit Dienstsitz in der Viktoria-Kaserne zerschlug bis 1935 den Widerstand der Arbeiterbewegung und inhaftierte Regimegegner sowie als »Gemeinschaftsfremde« stigmatisierte Menschen in den Konzentrationslagern. Im Oktober 1938 wurde die Exerzier- und Reithalle der Kaserne als Sammelstelle für polnischstämmige jüdische Familien ohne deutschen Pass genutzt, bevor diese per Bahn an die Grenze abgeschoben wurden.

Im Zweiten Weltkrieg beteiligten sich Hamburger Polizisten ab 1939 aktiv am Überfall auf Polen, an Deportationen, Vertreibungsaktionen und Geiselerschießungen. Reserve-Polizeibataillone waren als zentrale Akteure des Holocausts für die systematische Ermordung von Zehntausenden jüdischen Menschen in Polen und der Sowjetunion verantwortlich. Polizeiregimenter begingen im Rahmen der sog. »Partisanenbekämpfung« Kriegsverbrechen an der sowjetischen Zivilbevölkerung. Kaum einer dieser Mörder in Uniform wurde nach 1945 für seine Taten belangt.

Frühmorgens um 4:30 Uhr hämmerte es an der Tür. Die Beamten brüllten meinen Vater an: »Anziehen! Mitkommen!« Meine Mutter bestand darauf, dass ihr Mann auf keinen Fall alleine geht. Ich erinnere mich, wie wir auf der Pritsche eines Lkw durch die Straßen fuhren bis zu einer Turnhalle. Dort knieten Leute auf dem Boden und flehten Gott an.
Peggy Parnass, 2018

Keiner der Angeklagten habe sich im Fall einer Befehlsverweigerung einer unmittelbaren Bedrohung für Leib und Leben ausgesetzt gesehen. … Denn dass es sich um einen rechtswidrigen Befehl gehandelt habe, sei jedem erkennbar gewesen. Mit ihrer Widerstandslosigkeit gaben sie den übrigen Bataillonsangehörigen das entscheidende Beispiel.
Urteilsbegründung Landgericht Hamburg zum Reservepolizeibataillon 101

Hilfe vs. Helfen (Wohnlager)

Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte in Altona große Wohnungsnot und Teile der Kasernenblöcke wurden für die Unterbringung von Flüchtlingen und Aussiedler*innen genutzt. Es entstanden Wohnungen, in denen die Familien auf engstem Raum zusammenlebten, ein Andachtsraum und ein Kindertagesheim. Zeitzeug*innen bewerten im Rückblick auf diese Zeit ihr Leben in den Unterkünften größtenteils positiv.

1962 zogen die Aussiedler*innen und Flüchtlinge aus und die Sozialbehörde errichtete ein Wohnlager für Obdachlose und all diejenigen, die sie als »nicht integrierbar in normalen Wohnraum« betrachtete. Das Leben im Wohnlager beförderte die Stigmatisierung, Diskriminierung und Perspektivlosigkeit der Bewohnerschaft. Konflikte, Gewalt und soziale Desintegration waren die Folge. Die Lage besserte sich erst nach der öffentlichen Skandalisierung und der Selbstorganisation der Bewohnerschaft mit Umzügen in Sozialwohnungen. 1974 wurden die Kasernenblöcke I und II abgerissen.

Die Umnutzung des Blocks III durch die fux eG ermöglichte solidarische Formen der Unterbringung. So richtete Anfang 2016 eine Initiative von Menschen aus Hamburg-Altona hier einen Ruhehafen ein, um Geflüchteten auf ihrem Weg nach Skandinavien warmes Essen und Betten zur Verfügung zu stellen.

Das Konzept der Sozialbehörde war damals das Drei-Stufen-Konzept. Die erste Stufe, das waren die Obdachlosenlager in ehemaligen Kasernen und Baracken. Wer sich dort bewährte, sollte in die zweite aufsteigen, um seine ›Wohnfähigkeit‹ zu beweisen. Von da aus sollte dann die dritte Stufe, eine normale Mietwohnung, erreicht werden. Die Bewohner in der Eggerstedtstraße aber wollten sofort in richtige Wohnungen – und wir unterstützten sie darin.
Josef Bura, der im Rahmen seiner Dissertation über Wohnungslosigkeit von 1970 bis 1973 im Wohnlager Eggerstedtstraße lebte

Ein Gemeinwesen entsteht erst in seiner jeweils einzigartigen Qualität durch die Aktivitäten, Ideen und Verabredungen zu gemeinsamem Tun. Ein Gemeinwesen ist nicht etwas, was wir vorfinden, sondern etwas, was wir erst durch gemeinsame Aktivität schaffen.
Timm Kunstreich, zum Jubiläum der GWA St. Pauli, die aus den Aktivitäten im Wohnlager Eggerstedtstraße entstand

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